Ist COVID-19 (Coronavirus) ein Anwendungsfall von höherer Gewalt (Force Majeure)?

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Das Coronavirus ist nicht nur tragisch für die betroffenen Personen, er wirkt sich mittlerweile auch spürbar auf die Wirtschaft aus. Das Schweizer Unternehmen ABB hat bekannt gegeben, dass die Produktion in China für mindestens eine Woche eingestellt wird. Viele Elektronikhersteller kämpfen bereits mit Lieferengpässen, da die Herstellung vielfach ganz oder teilweise in China erfolgt. Rechtlich gesehen führt dies dazu, dass Lieferverträge nicht vertragsgemäss erfüllt werden können. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob das Coronavirus als rechtliche Begründung für eine Verzögerung oder Nichtlieferung herangezogen werden kann und sich ein Schuldner auf einen Fall von höherer Gewalt berufen könnte.  

Höhere Gewalt / Force Majeure

Die verschiedenen Rechtssysteme und die Lehre definieren den Begriff höhere Gewalt nicht einheitlich. In internationalen Vertragsverhältnissen und englisch geprägten Rechtsgebieten trifft man oft den Begriff «Force Majeure» als Bezeichnung für höhere Gewalt an. Allgemein werden Ereignisse von «höherer Gewalt» als Vorfälle bezeichnet, welche ausserhalb des Einflussbereiches einer Partei liegen und auch mit äusserster Sorgfalt nicht abgewendet werden können. Das Ereignis muss ausserhalb der betrieblichen Sphäre des Unternehmens liegen; der Brand einer Betriebsstätte bspw. würde nicht unter höhere Gewalt fallen, da es sich hierbei um ein betriebliches Risiko handelt. Dasselbe gilt auch für eine Insolvenz eines Zulieferers, die ebenfalls ein unternehmerisches Risiko darstellt und entsprechend berücksichtigt werden muss. Ausserdem muss das Ereignis unerwartet eintreten, denn auf ein absehbares Ereignis hätte sich eine Partei entsprechend vorbereiten können.

Als Ereignisse von höherer Gewalt gelten allgemein; Naturereignisse (Überschwemmungen, Erdbeben, Taifune, etc.), Kriege, Revolutionen, Terrorismus sowie Streiks.

Selbstredend muss die Verhinderung der vertraglichen Erfüllung im Kausalzusammenhang zum Ereignis stehen.

Gesetzliche Regelung

Auf den Begriff höhere Gewalt wird im Schweizer Gesetz immer wieder verwiesen, das Gesetz hält jedoch keine Definition bereit. Es ist daher allgemein akzeptiert, dass sich ein Schuldner auf höhere Gewalt berufen kann. Es gilt dabei zwischen Unmöglichkeit und einer vorübergehenden Unmöglichkeit zu unterscheiden.

Soweit durch Umstände, die der Schuldner nicht zu vertreten hat, seine Leistung unmöglich geworden ist, gilt die Forderung als erloschen (Art. 119 OR). Sofern es sich nicht um ein Verfalltagsgeschäft handelt, wird eine Pandemie die Lieferung lediglich verzögern, aber nicht verunmöglichen. Der Schuldner würde sich hier in Verzug befinden, was zu Schadenersatzforderungen führen könnte. Im kaufmännischen Verkehr wird jedoch meist ein bestimmter oder bestimmbarer Liefertermin vereinbart. Bei Verzug wird sodann automatisch vermutet, dass der Gläubiger auf die Lieferung verzichte und Schadenersatz wegen Nichterfüllung beanspruche. Da ein Fall von höherer Gewalt nicht automatisch geprüft wird, ist es wichtig, dass eine entsprechende Anzeige an den Gläubiger erfolgt.

Aus Sicht des Gläubigers gilt es zu beachten, dass der Schuldner nicht mehr für eine unmögliche oder nicht termingerechte Lieferung haftet, wenn die Gefahr bereits auf den Gläubiger übergegangen ist. Sofern nicht besondere Verhältnisse oder Verabredungen eine Ausnahme begründen, gehen beim Kaufvertrag Nutzen und Gefahr der Sache mit dem Abschluss des Vertrages auf den Gläubiger über (Art. 185 OR). In der Praxis wird sich der Übergang vielfach aus den Incoterms ergeben, welche unterschiedliche Zeitpunkte des Übergangs der Gefahr vorsehen. Steckt die Ware irgendwo in der Logistikkette fest, könnte die Gefahr bereits beim Gläubiger liegen. In internationalen Vertragsverhältnissen gilt es ausserdem zu prüfen, ob das CISG Anwendung findet. Im Ergebnis sieht dieses eine ähnliche Lösung vor, weshalb vorliegend nicht im Detail darauf eingegangen wird.

COVID-19 als höhere Gewalt

Leider kann hierzu keine allgemeingültige Aussage gemacht werden. Insbesondere in Fällen, in denen die Produktions- oder Lieferkette aufgrund behördlicher Massnahmen unterbrochen wurde, dürfte ein Fall von höherer Gewalt vorliegen. Das Coronavirus für sich allein wird wohl in vielen Fällen nicht ausreichen, um sich auf höhere Gewalt berufen zu können. Ausser der entsprechende Vertrag führt «Pandemie» als Beispiel auf und die Kausalität ist gegeben. Befindet sich der Schuldner (oder ein Tochterunternehmen) somit in einem der gesperrten oder unzugänglichen Gebiete in China, wird dies wohl ein Fall von höherer Gewalt darstellen, da eine Vertragserfüllung durch behördliche Massnahmen verhindert wird.

Schlussendlich wird es von der Vertragsformulierung und dessen Interpretation abhängen, ob ein Fall von höherer Gewalt vorliegt oder nicht.

Vertragliche Regelung von «höherer Gewalt»

In vielen Verträgen findet sich eine Force Majeure-Klausel. Diese Klausel wird meist als Standardklausel wahrgenommen und ihr wird daher oft nur wenig Beachtung geschenkt. Es handelt sich nur auf den ersten Blick um eine Standardklausel, da die Vertragsparteien in deren Ausgestaltung grundsätzlich frei sind. In Verträgen finden sich daher ganz unterschiedliche Klauseln. Als Erstes gilt es zwischen abschliessend formulierten Klauseln und offen formulierten Klauseln zu unterscheiden. Bei abschliessend formulierten Klauseln ist der Anwendungsbereich für höhere Gewalt durch die Parteien bereits entsprechend definiert worden. Findet sich somit kein Hinweis auf Pandemien oder sonstige Ereignisse, welche die Gesundheit betreffen, kann davon ausgegangen werden, dass die Parteien dies nicht als ein Anwendungsfall von höherer Gewalt ansehen.

In den meisten Verträgen findet sich eine offene Formulierung, meist beinhaltet diese eine Aufzählung von Beispielen wie Krieg, Naturkatastrophen, etc. Auf eine offene Formulierung deuten Formulierungen wie «insbesondere», «exemplarisch» oder wenn bei der Aufzählung auf weitere unvorhersehbare Ereignisse hingewiesen wird. Im besten Fall findet sich der Begriff Pandemie bereits unter den beispielhaften Aufzählungen. Da die Beispiele jedoch meist sehr allgemein gehalten sind, bleibt weiterhin ein nicht unerheblicher Interpretationsspielraum bei der Auslegung einer solchen Klausel.

Zusätzlich findet sich in einer solchen Klausel oft eine Regelung betreffend den Auswirkungen und Handlungsmöglichkeiten. So kann das Vorliegen höherer Gewalt mit unterschiedlichen Rechten verknüpft sein. Es ist dabei an folgende Möglichkeiten zu denken:

Künftig werden wohl alle Verträge massgeschneiderte Force Majeure-Klauseln enthalten.
— RA Yves Gogniat
  • Suspendierung (von was?)

  • Kündigungsrecht

  • Gewährung von Nachfristen

  • Befreiung von Schadenersatzpflichten

Bevor man sich auf höhere Gewalt beruft, gilt es daher immer zuerst die entsprechende Vertragsklausel genauer zu prüfen. Das Vorliegen einer Klausel «höhere Gewalt» oder «Force Majeure» reicht alleine noch nicht aus, um einen Lieferungsverzug oder eine Nichtlieferung aufgrund der COVID-19-Pandemie zu rechtfertigen.

Zur konkreten Rückabwicklung von Verträgen siehe hier.

Anzeige einer Verzögerung

Erschwerend kann hinzukommen, dass die Erfüllung zum heutigen Zeitpunkt noch nicht geschuldet ist, aber bereits absehbar ist, dass sich die vertraglich vereinbarte Frist nicht mehr einhalten lassen. Beispielsweise hat die Niederlassung seine Produktion temporär eingestellt, womit die Möglichkeit besteht, dass das Endprodukt nicht termingerecht fertigstellt werden kann. Eine Berufung auf höhere Gewalt zu einem späteren Zeitpunkt kann schnell zu Diskussionen führen und ein Nachweis des Kausalzusammenhangs ist im Nachhinein nicht immer einfach. Die Gegenseite wird dann zudem vielfach das Argument ins Feld führen, dass eigentlich genügend Zeit bestand, sich um eine Alternativlösung zu bemühen.

Bereits aus Treu und Glauben ergibt sich die Pflicht möglichst früh über die Wahrscheinlichkeit einer Unmöglichkeit der Leistung zu informieren. Viele Verträge beinhalten zudem eine Klausel, welche die umgehende Mitteilung einer absehbaren Lieferverzögerung vorschreiben. Teilweise kann durch eine frühzeitige und begründete Mitteilung das Risiko einer Vertragsstrafe verhindert oder zumindest reduziert werden.

Als Unternehmen sollte man daher bereits heute prüfen, ob es allenfalls zu Verzögerungen kommen könnte, weil sich bspw. Lieferanten in Verzug befinden. Besteht die Möglichkeit einer Verzögerung, sollte eine Mitteilung an den Kunden sowie eine Abmahnung des Lieferanten geprüft werden und zusätzlich ist der Vorfall entsprechend zu dokumentieren, damit in einem möglichen Streitfall die Beweise vorhanden sind.

Versicherungen / Garantien

Ein Schadenfall begründet durch höhere Gewalt ist vielfach nicht durch Versicherungen gedeckt. Es kommt jeweils auf die individuelle Klausel an. Exportversicherungen bieten allenfalls im Rahmen der Versicherung von politischen Risiken auch eine Deckung von typischen Ereignissen der höheren Gewalt an. Es kommt auch hier auf die genaue Ausformulierung der entsprechenden Klausel an. Es darf daher nicht blind auf seine Versicherung vertraut werden. Bei gesundheitsbedingten Versicherungsfällen muss für eine Versicherungsdeckung oft eine offizielle Warnung einer staatlichen Behörde oder der WHO vorliegen.

Dasselbe gilt für Garantien, wie bspw. Bankgarantien, solche Finanzierungsinstrumente können ebenfalls entsprechende Klauseln vorsehen, welche Vorfälle bei höherer Gewalt ausschliessen oder einen Stillstand bewirken können.


Dieser Beitrag wurde von RA Yves Gogniat verfasst.

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