Urteilsbesprechung: Wann gilt eine E-Mail als zugegangen? Auswirkung für den DACH-Raum
Eine neuere Entscheidung des Bundesgerichtshofes der Bundesrepublik Deutschland zum Zugang einer E-Mail (BGH, VII ZR 895/21, Urteil vom 06.10.2022) dürfte auch für die Unternehmen im gesamten DACH-Raum[1] Auswirkungen haben.
Was hat der Bundesgerichtshof entschieden?
Bisher war es ungeklärt, wann eine E-Mail rechtlich als dem Empfänger "zugegangen" gilt. Während einige meinten, es komme darauf an, wann die E-Mail abrufbereit im elektronischen Postfach eingegangen ist, ist nach anderer Ansicht entscheidend, wann ein Abruf und eine Kenntnisnahme im geschäftlichen Verkehr üblicherweise zu erwarten ist.
Der Bundesgerichtshof schafft nun Klarheit, auch wenn er ausdrücklich nur für den unternehmerischen Geschäftsverkehr entschieden hat:
«Der Streitfall gibt keinen Anlass, die Rechtsfrage umfassend zu entscheiden. Jedenfalls für den nach den unangefochtenen Feststellungen des Berufungsgerichts gegebenen Fall, dass die E-Mail im unternehmerischen Geschäftsverkehr innerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dem Mailserver des Empfängers abrufbereit zur Verfügung gestellt wird, ist sie dem Empfänger grundsätzlich in diesem Zeitpunkt zugegangen. Denn damit ist die E-Mail so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass er sie unter gewöhnlichen Umständen zur Kenntnis nehmen kann. Dass die E-Mail tatsächlich abgerufen und zur Kenntnis genommen wird, ist für den Zugang nicht erforderlich.» (Rz. 19)
Auch technisch begründet der Bundesgerichtshof seine Entscheidung:
«Elektronische Willenserklärungen in Form von E-Mails werden als Datei gespeichert von dem Mailserver des Absenders an den Mailserver des Empfängers weitergeleitet. Dieser wird über den Eingang der E-Mail unterrichtet. In diesem Zeitpunkt ist der Empfänger in der Lage, die E-Mail-Nachricht abzurufen und auf seinem Endgerät anzeigen zu lassen.» (Rz. 20)
Was ist so neu daran?
Im entschiedenen Fall ging es darum, dass die zugegangene E-Mail mit einem Vergleichsangebot nicht mehr wirksam nach § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB (entspricht sinngemäss Art. 9 Abs. 1 OR) widerrufen werden konnte. Bisher war aber der Zeitpunkt des Zugangs umstritten. Die bisherigen Urteile waren teilweise noch aus einer Zeit, wo nicht jeder mit Smartphone jederzeit auf seine E-Mails Zugriff hatte. Auch hatte noch vor einiger Zeit nicht jeder fast immer und überall Zugang zu seinen E-Mails und seinem E-Mail-Postfach. Einen Webmailer (Emails über eine Webseite abrufen) nutzt heute kaum noch jemand im geschäftlichen Verkehr. Der Bundesgerichtshof stellt nun klar: Ist die E-Mail abgesandt und abrufbereit für den Empfänger verfügbar, dann gilt diese als zugegangen. Da ein Grossteil der E-Mail-Konten über IMAP- oder Exchange-Server abgewickelt wird und ein automatischer Abruf erfolgt, kommt es auf die technische Beweisfrage, wann die E-Mail auf dem Provider-Server zum Abruf bereitsteht, in der Praxis wohl nicht mehr an. Angesichts der weiten Verbreitung von E-Mails im geschäftlichen Verkehr dürfte insbesondere in einem Prozess für den Nachweis eines Zuganges ausreichend sein, wenn der Absender die Absendung aus seinem Postfach beweisen kann. Denn die heutige Technik der Provider stellt die E-Mail innert Sekunden zu. Eine juristisch und technisch spannende Frage bleibt gleichwohl: Was passiert, wenn der Empfänger eine Firewall nutzt und damit die Zustellung der E-Mails verzögert wird? Denn die E-Mail steht in diesem Moment abrufbereit auf dem Server zur Verfügung, ist aber noch nicht auf das Endgerät übermittelbar. Nach der obengenannten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kommt es darauf nicht an. Die E-Mail gilt als zugestellt, sobald sie auf dem Provider abrufbar ist.
Und was hat das mit der Schweiz und DACH zu tun?
Im geschäftlichen Verkehr sollten Unternehmen wissen, dass die voreilige Absendung einer E-Mail zum Beispiel mit einem Vergleichsvorschlag nicht durch Nachsendung einer E-Mail widerrufen werden kann (so im Entscheid des Bundesgerichtshofs). Auch sollten Unternehmer wissen, dass mittels E-Mail Verträge abgeschlossen werden können, wenn keine besondere Form vorgeschrieben ist.
Zwar hat das Schweizerische Bundesgericht (BGer 2 C_699/2012, Urteil vom 22. Oktober 2012) festgestellt, dass E-Mail-Verkehr "gefahrenbehaftet" ist:
«Es kann heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass der Verkehr mit E-Mails gefahrenbehaftet und im Allgemeinen nur beschränkt verlässlich ist. Insbesondere gilt, dass der Nachweis des Zugangs elektronischer Nachrichten in den Machtbereich der empfangenen Person aufgrund der technischen Gegebenheiten anerkanntermassen Schwierigkeiten bereitet. […]. In der Praxis bleibt die Möglichkeit, von der empfangenen Person eine Eingangsbestätigung zu verlangen und bei deren Ausbleiben zu reagieren. Eine entscheidrelevante Mitteilung per E-Mail zu versenden, ohne weitere (Kontroll-)Massnahmen zu ergreifen, entspricht nicht sorgfältiger Erfüllung des Auftragsverhältnisses (Art. 389 OR).» (E. 4.2)
Diese Entscheidung dürfte jedoch angesichts der technischen Entwicklung so heute nicht mehr ausfallen.
Was sagen unsere Experten?
Sven Kohlmeier, Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht:
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofes spiegelt den aktuellen technischen Fortschritt wider. Es ist bei E-Mails wie bei einem Briefkasten: Ist die Post eingeworfen, gilt diese als im geschäftlichen Verkehr zugegangen, da diese in den ausschliesslichen Machtbereich des Empfängers gelangt. Ist der Briefkasten voll, kann keine Post eingeworfen werden und es gibt keinen Zugang. So ist es nun auch bei der E-Mail: Geht die E-Mail auf dem Mail-Server des Empfängers ein und kann auch tatsächlich technisch abgerufen werden, gilt die E-Mail als zugegangen. Ist der E-Mail-Server voll und die E-Mail steht nicht abrufbereit zur Verfügung, erfolgt rechtlich noch kein Zugang.
Ausser der Mitteilung über die Versendung im eigenen Postausgang gibt es aber keinen gerichtsfesten Beweis, dass die abgesendete E-Mail bei dem Empfänger zugegangen ist. Auch hier gilt: Angesichts des technischen Fortschritts und der Präzision der Provider wird der Postausgang des Absenders ein erhebliches Indiz, wenn nicht sogar Beweis für die Versendung und damit auch den Zugang der E-Mail sein.
Für den privaten Bereich wird die Rechtsprechung so nicht ohne weiteres zu übertragen sein. Denn man ist nicht wie im unternehmerischen Bereich zu den üblichen Geschäftszeiten erreichbar. Aber auch im privaten Bereich dürfte eine E-Mail als zugegangen gelten, wenn diese in den Machtbereich des Empfängers gelangt und üblicherweise abgerufen wird. Das dürfte dann am Abend desselben Tages der Versendung der Fall sein.
Haben Sie Fragen zu rechtlichen Aspekten des geschäftlichen E-Mailverkehrs? Wenden Sie sich gerne an Sven Kohlmeier.
[1] Deutschland, Österreich, Schweiz