Persönliche Haftung im Konkurs einer Gesellschaft: Wann Verwaltungsräte für Sozialversicherungsbeiträge persönlich haften

Bei Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) haftet grundsätzlich nur die Gesellschaft selbst für ihre Schulden. Wird jedoch über eine AG oder eine GmbH der Konkurs eröffnet, so können insbesondere Verwaltungsräte, Geschäftsführer und faktische Organe unter bestimmten Umständen persönlich zur Verantwortung gezogen werden – dies ist insbesondere der Fall bei offenen Sozialversicherungsbeiträgen. Dieser Beitrag thematisiert die persönliche Haftung von Verwaltungsräten für Sozialversicherungsbeiträge im Konkurs einer Aktiengesellschaft.

1. Pflichten des Verwaltungsrates bei finanziellen Schwierigkeiten

Die Überwachung der Zahlungsfähigkeit ist eine zentrale Aufgabe des Verwaltungsrates einer Aktiengesellschaft. Diese Pflicht obliegt dem Verwaltungsrat unabhängig von der finanziellen Lage der Gesellschaft. Zur Überwachung der Zahlungsfähigkeit dient regelmässig der Liquiditätsplan.

Steckt jedoch die Aktiengesellschaft in finanziellen Schwierigkeiten, ist der Verwaltungsrat angehalten, rechtzeitig geeignete Massnahmen zu ergreifen. So hat er einerseits Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit und andererseits Massnahmen zur Sanierung zu ergreifen (Art. 725 Abs. 2 OR). Ausserdem hat er zum Beispiel bei unmittelbar drohender Zahlungsunfähigkeit nötigenfalls ein Gesuch um Nachlassstundung einzureichen (Art. 725 Abs. 2 OR) oder bei Überschuldung eine Anzeige nach Art. 725b Abs. 3 OR an das Gericht (Überschuldungsanzeige mit Konkursantrag oder Antrag auf Gewährung der provisorischen Nachlassstundung) zu machen.

Verletzt der Verwaltungsrat schuldhaft seine Pflichten, kann er grundsätzlich mittels Verantwortlichkeitsklage zu Schadenersatz verpflichtet werden (Art. 754 OR).

 

2. Persönliche Haftung des Verwaltungsrates für Sozialversicherungsbeiträge nach Art. 52 AHVG

In erster Linie haftet die Aktiengesellschaft selbst für ihre Schulden, auch für Sozialversicherungsbeiträge. Kommt es jedoch zum Konkurs und bleiben Sozialversicherungsbeiträge unbezahlt, so kann die Ausgleichskasse auf Grundlage von Art. 52 AHVG den Verwaltungsrat persönlich zur Verantwortung ziehen.

Die persönliche Haftung des Verwaltungsrates ist subsidiär und greift gemäss Art. 52 AHVG, wenn der Ausgleichskasse durch absichtliches oder grobfahrlässiges Verhalten ein Schaden entstanden ist. Ein Schaden entsteht ihr, sobald ihr gesetzlich zustehende Beiträge entgehen, die wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr im ordentlichen Verfahren nach Art. 14 AHVG erhoben werden können. Dies ist in der Regel der Fall bei Erhalt von definitiven Pfändungsverlustscheinen (Art. 115 Abs. 1 i.V.m Art. 149 SchKG) oder bei Konkurseröffnung über eine juristische Person (BGE 136 V 268 E. 2.6).  

Mit  Eintritt des Schadens besteht der Anspruch der Ausgleichskasse nicht mehr auf die Leistung der Beiträge, sondern auf Ersatz der nicht mehr einforderbaren Beiträge. Die Höhe des Schadens entspricht dem gesamten Betrag, der der Ausgleichskasse verlustig geht. Dazu gehören neben den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen auch Verzugszinsen für fällige Beiträge, Veranlagungskosten, Verwaltungskosten, Mahngebühren und Betreibungskosten. Nebst den entgangenen AHV-Beiträgen umfasst der Schaden auch die entgangenen IV-, EO-, ALV-, und FamZG-Beiträge.

Obwohl das Gesetz in Art. 52 AHVG nur von einer "absichtlichen" oder "grobfahrlässigen" Verursachung eines Schadens spricht, hat die Rechtsprechung dies dahingehend konkretisiert, dass die Nichtbezahlung von Sozialversicherungsbeiträgen per se mindestens grobfahrlässig sei, unabhängig davon, welche Aufgabe dem verantwortlichen Organ tatsächlich zukam. Folglich ist heute von einer Kausalhaftung der verantwortlichen Organe auszugehen. Die Berufung darauf, dass diese Aufgabe einem anderen Organ oblag oder man selbst in Wahrheit gar keine Entscheidungsbefugnis hatte und diese von anderen Personen wahrgenommen wurde, ist also unbehilflich.

Ein Verwaltungsrat haftet grundsätzlich nur für die Zeit, in der er formelles oder faktisches Organ der Gesellschaft war. Die persönliche Haftung beginnt ab dem Tag des effektiven Eintritts in die Gesellschaft und endet grundsätzlich nicht erst mit der Löschung aus dem Handelsregister, sondern bereits in dem Zeitpunkt, in dem die Person aus der Gesellschaft tatsächlich ausgeschieden ist. Ausgenommen davon ist der Fall, in dem der Schaden durch Handlungen verursacht wurde, deren Wirkungen sich erst nach dem Austritt entfaltet haben.

Die Haftung des Verwaltungsrates ist subsidiär. Das bedeutet, dass die Ausgleichskasse sich zunächst an die Gesellschaft zu halten hat, bevor sie den Verwaltungsrat belangt. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, haften sie für den ganzen Schaden solidarisch (Art. 52 Abs. 1 und 2 AHVG). Dabei steht es der Ausgleichskasse frei, ob sie gegen alle, einzelne oder nur gegen einen Einzelnen vorgeht. Setzt sich der Kreis der Verantwortlichen aus Personen mit Wohnsitz in der Schweiz und Wohnsitz im Ausland zusammen, wird die Ausgleichskasse wohl Personen mit Wohnsitz in der Schweiz zuerst belangen.

Regelmässig wird jedoch der in Anspruch genommene Schadenersatzpflichtige ein rechtliches und faktisches Interesse daran haben, dass neben ihm auch andere Personen für haftbar erklärt werden, weil er unter Umständen gegen Mithaftende Regress nehmen kann. Deshalb ist der in Anspruch genommene Schadensersatzpflichtige auch an Verfahren gegen andere potenziell Schadenersatzpflichtige zu beteiligen.

 

3. Analoge Haftung für BVG-Beiträge?

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob der Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft analog zur Haftung nach Art. 52 AHVG auch für nicht geleistete BVG-Beiträge haftet.

Das BVG sieht ebenfalls eine Haftung für Organe vor, jedoch nicht für die Organe des Arbeitgebers, sondern für die Organe der Vorsorgeeinrichtung selbst. Eine Haftung für die Aktiengesellschaft als Arbeitgeber nach Art. 52 BVG kommt nur in Frage, wenn die Aktiengesellschaft als faktisches Organ im Rahmen der paritätischen Verwaltung der Vorsorgeeinrichtung sich als Arbeitgebervertretung nach Art. 51 BVG in die Geschäftsführung der Vorsorgeeinrichtung einmischt.[2] Eine analoge Rechtsgrundlage für die persönliche Haftung für  BVG-Beiträge zu Art. 52 AHVG besteht folglich nicht. Die Vorsorgeeinrichtung kann jedoch über die allgemeine Verantwortlichkeitsklage nach Art. 754 OR den Verwaltungsrat für ausstehende Beiträge belangen. In der Praxis wird die Vorsorgeeinrichtung regelmässig die Verrechnung der offenen Beiträge mit dem Freizügigkeitsguthaben der verantwortlichen Organe der Aktiengesellschaft verrechnen. Beispielhaft dazu den Entscheid des Bundesgerichts 9C_366/2008 vom 17. April 2009, E. 5f. und der neuere Entscheid des Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen BV 2021/5 vom 23. März 2022, E. 5.6.

4. Verfahren

Die Ausgleichskasse macht ihren Schadenersatzanspruch durch Erlass einer Verfügung geltend (Art. 52 Abs. 4 AHVG). Der Verwaltungsrat kann als schadenersatzpflichtige Person gegen die Verfügung innert 30 Tagen seit Zustellung Einsprache bei der Ausgleichskasse erheben.

Wiederum kann gegen den Einspacheentscheid innert 30 Tagen seit der Eröffnung des Einspracheentscheids Beschwerde erhoben werden. Das zuständige Gericht für die Beschwerde ist das Versicherungsgericht des Kantons, in dem der Arbeitsgeber zuletzt seinen Wohnsitz oder Sitz hat.

5. Fallbeispiele

Im Entscheid 9C_66/2016 vom 10. August 2016 hielt das Bundesgericht fest, dass ein Vizepräsident des Verwaltungsrates nicht von der Haftung nach Art. 52 AHVG befreit wird, wenn er vorbringt, dass er aufgrund der vom Verwaltungsratspräsidenten präsentierten Unterlagen keinen Handlungsbedarf hat erkennen können, obschon ihm die Liquiditätsprobleme der Gesellschaft bekannt waren. Vielmehr hätte er sich angesichts der Liquiditätsprobleme der Gesellschaft näher damit befassen, die finanziellen Abläufe kritisch verfolgen und nachprüfen müssen und darum besorgt sein müssen, dass die auf die fortgesetzten Lohnzahlungen geschuldeten Beiträge abgeliefert und nicht für andere Zwecke verwendet werden. Auch vermochte der weitere Einwand des Verwaltungsratsvizepräsidenten, dass er sich als Angestellter in einem Subordinationsverhältnis befand, ihn nicht von einer Haftung zu befreien. Für die Haftung nach Art. 52 AHVG ist unbeachtlich, aus welchem Grund die Annahme des Verwaltungsratsmandates erfolgte. Auch wenn der Einsitz im Verwaltungsrat aus einer arbeitsvertraglichen Verpflichtung heraus erfolgt, bleibt die formelle Organstellung und die strenge Haftung nach Art. 52 AHVG bestehen.

Im Entscheid BGE 112 V 1 konnte sich der einzige Verwaltungsrat einer Gesellschaft nicht von der Haftung nach Art. 52 AHVG befreien, indem er vorbrachte, er sei lediglich ein Strohmann gewesen und nur aufgrund eines Treuhandvertrages Einsitz in den Verwaltungsrat genommen. Auch hier galt: Wer eine formelle Organstellung hat, haftet, unabhängig davon, ob er tatsächlich als Organ agierte und seine Kontrollrechte wahrnahm oder nicht.

Nebst Verwaltungsräten einer AG können auch die Geschäftsführer und Gesellschafter einer GmbH von der Haftung nach Art. 52 AHVG betroffen sein. So wurde mit Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. März 2017 (AHV 2015/27) ein Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von CHF 120'000.00 an die Ausgleichskasse verpflichtet, obwohl er vorbrachte, er habe trotz seiner Stellung als Geschäftsführer faktisch keinen Einfluss auf die Führung der GmbH gehabt, er sei also lediglich ein Strohmann gewesen. Auch dass er mehrfach beim anderen Geschäftsführer und faktischen Gesellschafter um Einsicht in die Bücher ersuchte, diese jedoch nicht erhielt, entlastet ihn nicht. Vielmehr hätte er in dieser Situation nach der geltenden Rechtsprechung zur Vermeidung der Mithaftung zwingend als Organ zurücktreten müssen.

Unsere Handlungsempfehlungen

  • Betreibung auf Konkurs auch bei öffentlich-rechtlichen Forderungen: Beachten Sie, dass seit 1. Januar 2025 auch öffentlich-rechtliche Forderungen auf Konkurs betrieben werden. Weitere Informationen hierzu finden Sie in diesem Beitrag.

  • Liquidität laufend überwachen: Überwachen Sie laufend die Liquidität der Gesellschaft mittels einer Liquiditätsplanung und prüfen Sie regelmässig, ob die Beiträge der Sozialversicherungen tatsächlich entrichtet wurden.

  • Rechtzeitig Massnahmen einleiten: Treffen Sie bei Liquiditätsproblemen frühzeitig Massnahmen, so die Pflichten nach 725b. Oft sind auch Zahlungsvereinbarungen mit den Sozialversicherungen möglich.

 

Bei Fragen rund um die Themen Konkurs, Nachlassstundung und Haftung von Organen unterstützt Sie Balthasar Wicki gerne.